Mein kritischer Blick auf die Hochsensibilität und eine ehrliche Sicht auf mein persönliches hochsensibel sein.
2013 las ich einen Artikel zum Thema Hochsensibilität. Ich konnte es zuerst gar nicht glauben, aber dieser Artikel hätte von mir stammen können. Ich erkannte mich darin zu 100% wieder. Es gibt auch verschiedene Onlinetests die man über die Hochsensibilität machen kann. Man beantwortet einige Fragen und am Schluss stellt es sich heraus, ob man „betroffen“ ist oder nicht. Für mich war es eine enorme Erleichterung zu erfahren, dass ich eine hochsensible Person bin. Dass es „normal“ ist, dass es solche Menschen halt einfach gibt und nicht, dass man spinnt oder so. Endlich hatte ich eine Erklärung dafür, warum ich mich schon immer anders fühlte. Und zu wissen, dass es auch noch andere Leute gibt, die auch so sind, ist auch ein gutes Gefühl.
In den letzten 10 Jahren habe ich dutzende Bücher zum Thema gelesen und mich im Internet informiert. Dies und vor allem das eigene hochsensible Sein ergibt genügend Erfahrungen, Erlebnisse und Erkenntnisse um aus erster Hand davon zu erzählen.
Ich gebe zu, dass ich schon auch sehr verbissen auf der „Hochsensibilitätsschiene” unterwegs war. Alles habe ich genauestens analysiert, gecheckt und am Schluss immer der Hochsensibilität Recht gegeben.
Trotzdem – und auch zum Glück – gab es immer wieder Momente, in denen ich daran gezweifelt habe, ob es die Hochsensibilität überhaupt gibt oder ob es eine Erfindung ist. Reichte das Wort „sensibel“ nicht einfach ohne „hoch“ davor?
Misstrauisch wurde ich auch:
- Wenn plötzlich überall Personen erscheinen, die angeblich hochsensibel sind.
- Sich Menschen als Experte auf dem Gebiet ausgeben, obwohl sie erst seit kurzem wissen, dass sie hochsensibel sind und noch schlimmer, gar nicht selber davon betroffen sind.
- Prominente in den sozialen Medien über ihre angeblich hochsensiblen Kinder berichten und diese deswegen in Therapie (!) geschickt haben.
- Es laufend neue Angebote für Hochsensible im Coaching-Bereich gibt.
- Wenn die Hochsensibilität alleine plötzlich nicht mehr reicht und laufend neue Dinge dazu erfunden werden.
- Menschen, die hochsensibel sind mit Superlativen umschrieben werden.
- Hochsensible wie „Übermenschen“ und als etwas “ganz besonderes” dargestellt werden.
- Die Hochsensibilität mit Esoterik in Verbindung gebracht wird.
- Bücher zum Thema erscheinen, die für mich einen irren Inhalt haben und rein gar nichts mehr mit der „normalen“ Hochsensibilität zu tun haben. So etwas ist für mich unseriös, kurios. Im Eigenverlag lässt sich so etwas halt leicht veröffentlichen.
- Die Meinung besteht, dass nur gewisse Menschentypen hochsensibel sein können.
Dann stimmt für mich etwas nicht. Angesichts dieser Punkte sieht alles so aus, als wäre die Hochsensibilität eher eine „Modediagnose“ und ein „Trendthema“ und es wird versucht von allen Seiten aus auf den Zug aufzuspringen.
Ein weiterer Zeitabschnitt, in dem ich gezweifelt habe war, als ich durch den Tod meines Bruders im Jahr 2022 in eine extrem belastende Situation kam. Es war das Schlimmste, was ich bisher im Leben erlebt habe. An dieser Stelle hätte ich erst recht „hochsensibel“ reagieren müssen. Die erste Trauerzeit war eigentlich das Maximum an Reizüberflutung etc. In dieser Zeit trat das Thema Hochsensibilität in den Hintergrund und ich fragte mich, wo die Hochsensibilität geblieben ist.
Praktisch zeitgleich bin ich dann auf einen Artikel aufmerksam geworden, in dem ich gelesen habe, dass eine erhöhte Reizempfindlichkeit eine normale Erscheinung auf lebensgeschichtliche oder aktuelle Belastungen sein kann. (Somit also nicht NUR bei Menschen, die hochsensibel sind). Dies löste bei mir einen Aha-Effekt aus. Meine Lebensgeschichte und auch die aktuellen Belastungen waren immer so, dass eine erhöhte Reizempfindlichkeit die logische Folge davon hätte sein können. Ich habe aber immer gemeint, dass es so ist, weil ich ein hochsensibler Mensch bin. Somit zweifelte ich ein weiteres Mal daran, ob ich überhaupt hochsensibel bin, nur ein „Teilbereichs-Hochsensibler“ oder einfach “normal-sensibel“.
Sensibel zu sein kann also eine logische Folge durch gewisse Lebensumstände, Erlebnisse usw. sein. Ich spannte meine Gedanken etwas weiter: Aber auch das Gegenteil kann ja der Fall sein, dass jemand unsensibel ist und dadurch eher „hart” wird. Auch das ist eine logische Folge. Für diese Menschen müsste man ja den Begriff „Tiefsensibel oder Niedrigsensibel“ erfinden und ein ganzes Konstrukt darum aufbauen. Dann noch über solche, wo in der Mitte stehen „Mittelsensibel“. Über alle diese Menschen müsste man ja genau so viel schreiben wie über die Hochsensiblen. Warum tut dies niemand?
Und dann ist es ja noch so, dass ein introvertierter Mensch viel mehr Ruhephasen benötigt als eine extrovertierte Personen. Findet ein Introvertierter diese Zeitpunkte nicht, dann kann er auch sensibel, reizüberflutet etc. reagieren. Das ist alles Normal und muss nicht mit Extrabegriffen beschrieben werden oder mit der Hochsensibilität in Verbindung gebracht werden.
Trotz den Zweifeln zwischendurch, bin ich immer wieder zur Hochsensibilität zurückgekehrt. Ich bezeichne mich immer noch als hochsensibel. Ich reagiere nach wie vor auf Reize wie Gerede von vielen Menschen, grosse Personenansammlungen, überfüllte Einkaufscenter und Messehallen, über Fugen hoppelnde Einkaufswagen, Grossstadt-Gewimmel, Kinderkreischen, viel Betrieb um mich herum, Party und Ramba-Zamba usw. hochsensibel. Für mich kommt das Wort „Hochsensibel“ also immer in Frage, wenn ich von einer Reizüberflutung reden kann. Auch bin ich ein emphatischer und feinfühliger Mensch. Dies wird vor allem hochsensiblen Personen zugeschrieben. Ob dies aber mit der Hochsensibilität zusammenhängt oder nicht, lasse ich offen. Ich vertrete nicht die Meinung, dass nur hochsensible Menschen emphatisch und feinfühlig sein können. Diese Anmassung finde ich sehr unfair gegenüber allen nicht hochsensiblen Menschen die trotzdem so sind.
Alles in allem streite ich nicht ab, dass es die Hochsensibilität gibt.
Aber ich habe die Erkenntnis daraus gezogen, dass ich nicht alles in meinem Leben mit der Hochsensibilität in Verbindung bringen kann. Ich stellte mir die Frage, ob z.B. zuerst das Problem da war und ich darauf „hochsensibel” reagiert habe oder ob durch die Hochsensibilität das Problem entstand. Dies war für mich eine andere – aber sehr logische – Sicht, die viele bisherige Ansichten in Luft aufgelöst hat.
Auf meine Situation, auf mein Leben betrachtet bin ich heute ganz klar der Meinung, dass in vielen Bereichen meine „hochsensiblen” Reaktionen und Verhaltensweisen einfach die Folgen von Problemen, Lebensumständen, unerfüllten Wünschen, Bedürfnissen, Sehnsüchten etc. von der Vergangenheit und auch der Gegenwart sind. Ich gehe stark davon aus, dass wenn man mal das eine gelöst, das andere verändert und sich das Dritte erfüllt hat, ich mich weit weniger als „hochsensibel” bezeichnen würde als ich es bis jetzt tat.
Auch wenn ich mal einen Teil der Hochsensibilität aus meinem Leben streichen kann, ändert sich nichts daran, dass ich weiterhin ein introvertierter und ruhiger Mensch bin. Einer, der in der Ruhe “lebendig” ist. Der sich mit den eigenen Gedanken viel beschäftigt – manchmal vielleicht zu viel. Mich kann ich auch so beschreiben: Nach aussen hin bin und wirke ich ruhig, aber in meinem Inneren bin ich sehr lebhaft.
Die Hochsensibilität kurz erklärt
Betroffene reagieren stärker (teils x-fach) als Normalempfindliche auf äussere Reize.
Hochsensibilität ist eine Unfähigkeit oder Schwäche um Reize auszufiltern. Das „System“ ist unbewusst ständig in Betrieb und der Hochsensible nimmt dadurch tiefer und intensiver wahr (visuelle Reize, Geräusche, Gerüche, Schmerz oder auch Stimmungen und Emotionen anderer Menschen).
Bei Hochsensiblen hat sich das „Steuersystem“, welches die Wahrnehmungen reguliert, irgendwann auf Dauerwahrnehmung eingestellt und läuft auf Hochtouren. Auch wenn der „Höhepunkt“ schon längst hinter einem liegt, können die Auswirkungen noch lange anhalten.
In einem Satz kann man das Hochsensible auch so erklären: Eine normal empfindliche Person erlebt eine Situation, ein Ereignis etc. als laues Lüftchen, ein hochsensibler Mensch hingegen als starker Sturm.
Aus diesen Gründen benötigen hochsensible Menschen einfach mehr Ruhe und Rückzugsmöglichkeiten, weil sie in der Regel sehr viel zu verarbeiten haben.
Man geht davon aus, dass etwa 15 bis 20 Prozent der Menschen hochsensibel sind. Somit gibt es also mehr Hochsensible als z.B. Menschen mit blauen Augen (gemessen an der weltweiten Bevölkerung) oder Personen, die Linkshänder sind.
Warum jemand hochsensibel ist, kann nicht genau gesagt werden. Es kann durch Vererbung sein, ebenso können aber auch gewisse Lebensumstände dazu geführt haben bzw. die Hochsensibilität intensiviert haben.
Kontakt
(Mann, 1975, wohnhaft in der Schweiz, nähe Zürichsee, mail@hochsensibel-sein.ch).
Letzte Änderung am Text
1. Juni 2023